DDR-Polizeigefängnis soll Lernort werden / Ehemalige Häftlinge gründen Initiativgemeinschaft

(PP-Justiz) Ehemalige Häftlinge der DDR-Volkspolizei haben am Dienstag (22.7.) zusammen mit anderen Interessierten eine Initiative gegründet, im früheren Polizeigefängnis am Berliner Alexanderplatz einen Lernort zu schaffen. In der Gründungserklärung heißt es: „Der siebengeschossige Zellenbau eignet sich in besonderer Weise, um an einem authentischen Ort zur Auseinandersetzung mit den Formen politischer Verfolgung, der Entrechtung der Bürger und des staatlichen Machtmissbrauchs in der DDR anzuregen. Die Initiativgemeinschaft Ehemaliges Polizeigefängnis Keibelstraße setzt sich deshalb dafür ein, mit Führungen, Ausstellungen, Veranstaltungen und Seminaren die Geschichte des Hauses und der DDR-Volkspolizei als Stütze der SED-Diktatur darzustellen.“

Die Initiative will ab sofort bei den Mitgliedern des Berliner Abgeordnetenhauses und dem Berliner Senat um Unterstützung für ihr Anliegen werben. Im Oktober soll eine öffentliche Veranstaltung durchgeführt werden. Zu Sprechern wurden die ehemaligen Häftlinge Rainer Dellmuth und Harry Santos gewählt, Stellvertretende Sprecherin ist die frühere Gefangene Bärbel Henrich.
Die Gründungserklärung hat folgenden Wortlaut.

Die „Initiativgemeinschaft Ehemaliges Polizeigefängnis Keibelstraße“ ist ein Zusammenschluss ehemaliger Gefangener der Untersuchungshaftanstalt II im Ost-Berliner Volkspolizeipräsidium und anderer an der Geschichte dieses Haftortes Interessierter. Gemeinsam setzen sie sich für eine Nutzung dieses beeindruckenden Zeugnisses polizeilicher Willkür in der DDR als Lernort der historisch-politischen Bildung ein.

Im System der politischen Justiz in der DDR spielte die Untersuchungshaftanstalt II im Polizeipräsidium eine wichtige Rolle. Neben Kriminellen waren hier auch zahlreiche Oppositionelle, Regimekritiker, Fluchtwillige und Teilnehmer an verbotenen Protestkundgebungen inhaftiert. Viele Gefangene der Stasi-Untersuchungsgefängnisse Berlin-Hohenschönhausen und Berlin-Pankow wurden zuerst hierhin gebracht und hier erstmals verhört.

Das Gefängnis steht seit 1996 leer. Der Zellentrakt zwischen der Keibel- und der Bernhard-Weiß-Straße ist weitgehend vollständig geblieben und steht unter Denkmalschutz. Das Gebäude gehört zum Vermögen des Landes Berlin und wird derzeit nicht genutzt. Die „Initiativgemeinschaft Ehemaliges Polizeigefängnis Keibelstraße“ sieht in dem Gefängnistrakt ein einmaliges zeitgeschichtliches Baudenkmal, das es zu erhalten gilt und das als Ausstellungs- und Bildungsort zugänglich gemacht werden soll.

Der siebengeschossige Zellenbau eignet sich in besonderer Weise, um an einem authentischen Ort zur Auseinandersetzung mit den Formen politischer Verfolgung, der Entrechtung der Bürger und des staatlichen Machtmissbrauchs in der DDR anzuregen. Die „Initiativgemeinschaft Ehemaliges Polizeigefängnis Keibelstraße“ setzt sich deshalb dafür ein, mit Führungen, Ausstellungen, Veranstaltungen und Seminaren die Geschichte des Hauses und der DDR-Volkspolizei als Stütze der SED-Diktatur darzustellen. Auch die bislang wenig beachtete Funktion der Volkspolizei als Vorfeld- und Hilfsorganisation des Staatssicherheitsdienstes sollte hier thematisiert werden. Dabei sollten vor allem junge Menschen, aber auch Polizeibeamte, Justizbeschäftigte und andere Interessierte über die Rolle der Polizei in der SED-Diktatur informiert werden.

Die Initiativgemeinschaft verfolgt das Ziel, die Öffentlichkeit über die Existenz des ehemaligen Polizeigefängnisses zu informieren und für die Zugänglichmachung als Bildungs- und Lernort zu werben.
Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen hat ihr Interesse bekundet, das ehemalige Polizeigefängnis als einen Lernort zu entwickeln und zu betreiben. Über 600 Hohenschönhausen-Häftlinge wurden während ihrer Haftzeit in dem Ost-Berliner Polizeigefängnis verhört und gefangen gehalten. Die „Initiativgemeinschaft Ehemaliges Polizeigefängnis Keibelstraße“ regt daher an, als ersten Schritt die Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen mit der Ausarbeitung eines Betriebskonzeptes und einer Kostenschätzung zu beauftragen.

Die „Initiativgemeinschaft Ehemaliges Polizeigefängnis Keibelstraße“ bietet an, an der Ausarbeitung eines inhaltlichen Konzeptes aktiv mitzuarbeiten. Sie arbeitet dafür sie mit allen interessierten Institutionen und Einzelpersonen zusammen und bittet insbesondere die Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses um Unterstützung. Ziel ist es, im ehemaligen Polizeigefängnis einen Erinnerungsort zu schaffen, der die Gedenkstättenlandschaft Berlins um einen bisher unbeachteten Aspekt bereichert. Sie ruft den Berliner Senat auf, für die dauerhafte Nutzung des ehemaligen Polizeigefängnisses Untersuchungshaftanstalt als Ort der historisch-politischen Bildung Sorge zu tragen.

Kurzbiographien der Sprecher
Rainer Dellmuth wurde 1948 in Berlin geboren. Er war 1967 und 1971 im Polizeigefängnis Keibelstraße inhaftiert. Bereits als 17-jähriger geriet er durch “staatsgefährdende Äußerungen” in das Visier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Während seiner Ausbildung zum Buchdrucker legte das MfS einen so genannten Operativen Vorgang (OV) an, in dem Maßnahmen zu seiner Überwachung festgelegt wurden. Im Alter von 18 Jahren wurde Rainer Dellmuth wegen „versuchter Republikflucht“ und “staatsgefährdender Hetze” verhaftet und im Dezember 1967 vom Stadtbezirksgericht Berlin-Köpenick zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach seiner Haftentlassung beendete er seine Lehre und begann, das Abitur nachzuholen. Noch vor dem Abschluss seiner Schulausbildung wurde er im Oktober 1971 wegen “versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts in einem besonders schwerem Fall” erneut verhaftet und verurteilt. Im November 1972 wurde er im Wege des Häftlingsfreikaufs in die Bundesrepublik abgeschoben.

Harry Santos wurde 1955 in Leipzig geboren und wuchs in Thüringen auf. Seit 1977 lebte er in Ost-Berlin und nahm Kontakt zur dortigen Dissidentenszene auf. 1979 stellte er einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik. Um die Genehmigung zu beschleunigen, überzeugte er seine damalige Lebensgefährtin von der Idee, eine Scheinehe mit einem Amerikaner einzugehen. Seine Lebensgefährtin konnte tatsächlich auf diesem Weg die DDR verlassen. Seine eigene Ausreise wurde jedoch nicht bewilligt, nachdem bekannt geworden war, dass die Ehe seiner Lebensgefährtin fingiert war. Santos schmiedete Fluchtpläne, um die DDR zu verlassen. Von einer Freundin an das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) verraten, wurde er zunächst vom Staatssicherheitsdienst observiert und 1982 verhaftet und zunächst im ehemaligen Polizeigefängnis Keibelstraße inhaftiert. Wegen “Vorbereitung und Planung zum illegalen Grenzübertritt im schweren Fall” wurde er zu einer einjährigen Haftstrafe mit anschließender Polizeiaufsicht verurteilt. Nach neun Monaten wurde Harry Santos 1983 im Rahmen des Häftlingsfreikaufs in die Bundesrepublik abgeschoben.

Kontakt
Initiativgemeinschaft Ehemaliges Polizeigefängnis Keibelstraße
Rainer Dellmuth und Harry Santoz (Sprecher)
Kladower Damm 306
14089 Berlin
Mail: RvonArtenfels@aol.com

André Kockisch
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